Bewusstsein
Wo liegt das Problem? Wann wird die Figur darauf aufmerksam?
Es kann unterschiedliche Wissensstände innerhalb einer Geschichte geben:
- Der Erzähler weiß mehr darüber, was gerade passiert, als die Figur selbst
- Der Leser/Zuschauer weiß mehr darüber, was gerade passiert, als die Figur selbst
- Das Bewusstsein einer Figur von dem, was vor sich geht, und dem Wissen einer anderen Figur kann unterschiedlich sein
- Das Bewusstsein der Figur von ihrem eigenen internen Problem oder ihrer Motivation fehlt
Es geht also um Wahrnehmung und Verarbeitungsprozess. Eine Auseinandersetzung kann nur stattfinden, wenn eine Erkenntnis vorweggeht. Es ist eine Entscheidung des Autors, ob der Protagonist eine Selbsterkenntnis durchläuft oder ob andere Figuren, Erzähler, Leser/Zuschauer die Erkenntnis quasi in der Beobachtung haben.
Der letzte Punkt der Auflistung interessiert uns besonders, denn hier geht es um die Frage: Ist sich der Protagonist seines internen Problems bewusst? Wenn nicht, was passiert, damit er es wird? Findet eine Auseinandersetzung statt – und wenn ja: wie, wodurch und in welcher Form?
Das interne Problem
In vielen Geschichten haben Hauptfiguren, insbesondere der Protagonist, eine Charakterschwäche oder ein Manko, das den-/diejenigen davon abhält, das zu erreichen, was er/sie wirklich will, oder in verletzendes Verhalten gegenüber anderen resultiert.
Oft werden die Figuren dessen erst zu einem Zeitpunkt in der Geschichte gewahr, wenn sie durch die Geschehnisse zu einer Einsicht gelangen oder eine Offenbarung erfahren. Dieser Moment der Selbsterkenntnis führt dann dazu, dass die Figur ihre Verhaltensweise ändert und ihr Fehlverhalten wiedergutmacht – somit eine Veränderung durchläuft und sich zum Positiven entwickelt.
Solch eine Selbsterkenntnis kann sich nur einstellen, wenn der Figur zu Anfang der Geschichte ihr internes Problem nicht bewusst war. Sie durchläuft dann einen Prozess, der zum Moment des Bewusstwerdens führt.
Die innere Reise
Eine Geschichte beschreibt eine Reise – vom Ausgangspunkt bis zum finalen Schritt. Die Story Journey beginnt an dem Punkt, an dem der Protagonist mit dem externen Problem konfrontiert wird, und führt dann den ganzen Weg entlang bis zur Auflösung des Konflikts.
Konflikte machen Geschichten interessant, und dabei geht es nicht nur um externe Konflikte: Die Diskrepanz zwischen dem, wie die Figur sich selbst sieht, und dem, wie der Rest der Welt – oder der Leser/Zuschauer – sie sieht, kann für Spannung sorgen. Es steht also immer die Frage im Raum, ob und wann die Figur die Wahrheit über sich selbst herausfinden wird und was danach passiert.
Das Realisieren des eigenen Defizits bildet häufig den Mittelpunkt der Geschichte, danach entscheidet sich, wie die Figur mit dieser Erkenntnis umgeht, ob sie versucht, die Schwäche auszugleichen, sie zunächst ignoriert oder sich einer Auseinandersetzung verweigert.
Das richtige Bewusstsein und die endgültige Entscheidung, wie die Figur darauf reagiert, kommt typischerweise am Krisenpunkt der Konfrontation zum Ende der Erzählung. Ein Bewusstsein stellt sich nicht auf einen Schlag ein, sondern wächst, vor allem in der zweiten Hälfte der Erzählung.
Die Story Journey besteht also im Wesentlichen aus dem Handeln der Hauptfigur(en) und/oder dem Entdecken von Informationen – Letzteres führt vor allem zu einem wachsenden Bewusstsein, zu einer Entwicklung.
Wer lernt mehr, Protagonist oder Rezipient?
Das externe Problem stellt die Basis des Plots dar und ist daher oberflächlich das, worum es in der Geschichte geht. Das interne Problem führt dazu, dass der Charakter wächst – oder daran scheitert – und gibt der Geschichte mehr Tiefe. Die Art und Weise, wie eine Figur mit ihrem internen Problem umgeht, ist ausschlaggebend für die Identifikation und Emotionalisierung des Lesers/Zuschauers. Der Autor kann hierbei typische Verhaltensweisen und geläufige Situationen abbilden, um eine allgemeingültige Aussage zu erreichen.
Hier ist allerdings eine typische Schriftstellerfalle verborgen: Die Gefahr liegt darin, zu übertreiben oder zu moralisieren. Das kann ins Klischee kippen bzw. zu programmatisch erscheinen.
Muss ein Autor überhaupt ein internes Problem bzw. eine Situation der Offenbarung einflechten? Der Leser/Zuschauer erwartet zwar Einblick in das Innenleben einer Figur, aber nicht zwingend einen Erkenntnismoment. Der Autor sollte sich daher die Frage stellen, warum der Protagonist überhaupt etwas lernen muss, wozu also das Einflechten eines Charakterfehlers dienen soll. Ist die Offenbarung und das Überwinden des internen Problems wirklich relevant für die Geschichte, braucht es einen Erkenntnismoment oder wirkt das nur aufgesetzt?
So kann es ebenso wirkungsvoll sein, wenn ein Autor der Konvention trotzt und den Protagonisten seinen Fehler behalten und sogar genießen lässt. Ein unnachgiebiger Protagonist oder Antagonist, dem seine Defizite präsent sind, der seine Misserfolge und Unzulänglichkeiten bewusst wahrnimmt und starr daran festhält, kann interessanter sein als einer, der – nach gesellschaftlichen Maßstäben – alles richtig macht bzw. geläutert wird (und das nicht nur bei Figuren wie dem Joker in The Dark Knight).
In Storys wie Dirty Harry oder American Psycho stellt sich die Frage, warum wir als Leser/Zuschauer so fasziniert von den Hauptfiguren sind. Lernen diese Protagonisten durch die Offenbarung ihres internen Problems? Oder sind sie spannend, weil sie das eben nicht tun? Diese Charaktere zwingen uns womöglich dazu, unsere eigenen inneren Probleme zu betrachten.
Wenn nicht beim Protagonisten, findet eine Erkenntnis also womöglich beim Rezipienten statt. Häufig geschieht dies in Form einer moralischen Frage. In den genannten Beispielen: Ist Selbstjustiz unter Umständen akzeptabel? Wie viel Psychopath steckt in mir?
In vielen Workshops und modernen Büchern über Storytelling und kreatives Schreiben wird angeregt, den Protagonisten eine innere Entwicklung durchlaufen zu lassen, d. h. sich dem internen Problem zu stellen. Natürlich ist dies eine bewährte und zweifelsohne effektive Technik, jedoch ist es keine „Gebrauchsanweisung“ bzw. kein Garant für eine funktionierende Geschichte.