Geheimnisse
Weiß Deine Figur etwas, was andere nicht wissen – einschließlich des Publikums?
Manche Figuren haben Geheimnisse. Dabei geht es nicht unbedingt um ihr inneres Problem oder die Not, die sich daraus ergibt (sie mögen sich eines solchen Problems bewusst sein oder nicht), sondern um Information, die die Geschichte in eine neue Richtung wendet, sobald sie preisgegeben wird.
Wenn eine Figur ein Geheimnis hat, das nie enthüllt wird, ist das Geheimnis für die Geschichte (oder vielmehr für die Dramaturgie der Geschichte) irrelevant. Nur wenn das Geheimnis dem Publikum an einem bestimmten Punkt der Erzählung bekannt wird, ist es wirklich ein Bestandteil der Handlung.
Die Geheimnisse von Figuren sind eng mit dem Szenentyp ‚Enthüllung‘ verknüpft, der allerdings nicht unbedingt einer Offenbarung (für Figur oder Publikum) gleichgesetzt sein muss.
Für Autoren sind die wichtigsten zu kontrollierenden Aspekte von Figurengeheimnissen folgende:
- Welches Handlungsereignis führt zu dem Geheimnis? Das kann ein Ereignis aus der Vorgeschichte sein.
- Wie verändert oder bestimmt das Geheimnis die Entscheidungen oder das Verhalten der Figur?
- Teilt die Figur das Geheimnis zu irgendeinem Zeitpunkt mit einer anderen Figur, und wenn ja, wann (in welcher Szene)?
- An welchem Punkt der Erzählung (in welcher Szene) erfährt das Publikum von diesem Geheimnis?
Wer bist du wirklich?
Wenn es so wichtig ist, dass die Figur ein Geheimnis hat, dann wird das Geheimnis oft zu einem Teil dessen, wer diese Figur ist. Ihre Rolle in der Geschichte, ihre Identität innerhalb der Geschichte, wird durch ihr Geheimnis bestimmt. Geheimnisse sind also dramaturgisch wichtig.
Nehmen wir als Beispiel den Märchentopos des Mädchens, das vorgibt, ein Junge zu sein, um (im patriarchalischen System) auf eine Art von Quest zu gehen. Typischerweise gibt es in einer solchen Geschichte eine Szene zu Beginn der Erzählung, in der das Mädchen die Entscheidung trifft, seine wahre Identität zu verbergen. Später kann es eine Szene geben, in der sie ihr Geheimnis einem Verbündeten, z. B. dem Prinzen oder ihrem Liebhaber, offenbart. Das Publikum weiß jedoch die ganze Zeit über dieses Geheimnis. Es ist wahrscheinlich der Sinn der Geschichte, Teil ihrer Prämisse.
Ein alternatives Szenario könnte die (etwas klischeehafte) Idee sein, dass eine Figur während des größten Teils der Erzählung mit anderen interagiert, jedoch erst an einem Schlüsselpunkt in der zweiten Hälfte der Geschichte die wahre Identität dieser Figur enthüllt wird, z. B. als der lange verschollene Sohn, Erbe und Retter des Familienvermögens. In einer solchen Geschichte ist das Publikum von der Enthüllung ebenso überrascht wie die anderen Figuren.
Anspruchsvollere Versionen der Idee, dass die Identität einer Figur Teil eines großen Geheimnisses ist, lassen das Publikum rätseln, wer die Figur wirklich ist. So spielen viele dramatisierte Versionen der Geschichte von Martin Guerre, dem französischen Bauern, der viele Jahre nach seinem Kriegseinsatz zu seiner Frau und seiner Familie zurückkehrt, mit dem Zweifel an der wahren Identität des Heimkehrers und erzeugen so Spannung. In ähnlicher Weise fragt sich das Publikum in Homeland, ob Brody ‚verwandelt‘ wurde oder nicht (und [Achtung: Spoiler-Alarm] ein Teil des sprunghaften Verhaltens der CIA-Beamtin Carrie wird später erklärt, als das Geheimnis gelüftet wird, dass sie an einer bipolaren Störung leidet).
Geheimnisse können die Neugier und das Interesse des Publikums wecken und aufrechterhalten. Harry Potter wird aus der Sicht von Harry erzählt, wir wissen mehr oder weniger, was er weiß. Über Tausende von Seiten hinweg hält Dumbledore eine unglaubliche Menge von Geheimnissen vor Harry Potter und damit vor dem Publikum verborgen. Die schrittweise Enthüllung der Wahrheiten hinter der im Vordergrund stehenden Handlung ist Teil von J.K. Rowlings Gesamtkonzept für die gesamte Reihe.
Bei einem anderen Aufbau einer Geschichte kann Spannung dadurch entstehen, dass das Publikum dazu animiert wird, den Überblick darüber zu behalten, wer in das Geheimnis eingeweiht ist und wer nicht, d. h. wer wen zum Narren hält. Ein Beispiel dafür ist Der Talentierte Mr. Ripley, der viele Personen belügt, aber nicht alles vor allen verbergen kann, und das Vergnügen für das Publikum besteht zum Teil darin, darauf zu warten, dass er ertappt wird.
Der Protagonist in Sixth Sense hat ein Geheimnis und weiß es nicht [Achtung: Spoiler-Alarm]. Dieses Geheimnis wird in einer großen Enthüllung am Ende des Films mit Wow-Effekt gelüftet, als das Publikum erfährt, dass der Held in einer frühen Szene gestorben ist und den größten Teil der Erzählung über als Geist agiert hat. Dies zwingt das Publikum, alle vorherigen Szenen im Lichte der neuen Informationen zu überdenken. Im Vergleich dazu liegt ein Großteil des anhaltenden Reizes von Blade Runner in den sogar noch wirkungsvolleren Zweifeln an der Identität der Hauptfigur Deckard – ist er ein (nicht-menschlicher) Replikant oder nicht? Dadurch, dass der Film diese Frage nicht beantwortet und das Geheimnis bewahrt, können die Fans jahrelang über die verschiedenen Hinweise diskutieren, und der Film wird eher als ein Klassiker angesehen als Sixth Sense.
Das Geheimnis auf den Punkt bringen
Im Hinblick auf die Erzählstruktur sollte die Enthüllung eines großen Geheimnisses am besten an einem Schlüsselpunkt der Handlung platziert werden, möglicherweise in der Mitte oder am zweiten Pinch- oder Plotpunkt. Da viele Geschichten auf eine Enthüllungsszene zulaufen (z. B. in einem Krimi, wenn die wahre Identität des Mörders aufgedeckt wird), mag es verlockend sein, die Enthüllung eines großen Geheimnisses als die große Offenbarung der Geschichte zu betrachten. Man sollte jedoch bedenken, dass die wirksamsten Offenbarungen eine Art Metaebene des Verständnisses der Geschichte betreffen, die eine Veränderung im Verständnis des Publikums von der Welt oder von sich selbst bewirkt, d. h. dass es durch das Erleben dieser Geschichte etwas gelernt hat. Die Enthüllung eines Geheimnisses einer Figur besitzt manchmal nicht ganz so viel Tragweite.
Was die Geheimnisse der Figuren betrifft, so ist es entscheidend, dass die Autor*in immer weiß, über welchen Wissensstand jede Figur in jeder Phase der Handlung verfügt, so dass jede Figur entsprechend dem Stand ihres Wissens in diesem bestimmten Moment agiert und reagiert. Dieser kann sich von dem, was das Publikum oder andere Figuren wissen, stark unterscheiden, was zu ‚dramatischer Ironie‘ führt.
Umgekehrt, wenn eine Figur mehr weiß als das Publikum und Probleme mit Hilfe von Wissen oder Gegenständen löst, die das Publikum nicht kennt oder von denen es nicht wusste, dass die Figur sie besitzt, dann fühlt sich das Publikum bei der Enthüllung betrogen. In einigen Geschichten, meist nicht den großen, sieht man, wie die Heldin im entscheidenden Moment einen Gegenstand hervorholt, den das Publikum schon verloren geglaubt hatte, und man staunt: „Oh, sie hat das Ding also doch noch“. Die Idee ist, dass wir die Heldin für schlau halten, weil sie das Ding in ihre Tasche gesteckt hat, als wir dachten, es sei verloren gegangen. Aber seien wir ehrlich, das ist ein billiger Trick.
Ein wirksames Mittel kann sein, dass die Figur das Geheimnis am liebsten vor sich selbst verdecken will, d. h. dass das, was sie wie einen Stein um den Hals trägt, sie so sehr belastet, dass sie es nicht länger ertragen kann. Schuld– oder Schamgefühle können starke Motivatoren für Handlungen sein. Als zentrales Element der inneren Reise einer Figur eingesetzt, kann der Umgang mit einem unterdrückten Geheimnis zur wahren Not der Figur werden. An welchem Punkt ein solches Geheimnis dem Publikum am besten offenbart wird, hängt natürlich von der Wahl der Autor*in ab, wie die Geschichte insgesamt gestaltet wird.
Foto von Alexandru Zdrobău auf Unsplash
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