Geschichte vs. Narration

Der Unterschied zwischen Story und Narration liegt darin, wie eine Geschichte erzählt wird.

Man muss also differenzieren zwischen dem Erzählstoff und der Erzählweise.
Bei narrativer Erzählweise wird vom Autor eine Auswahl der Ereignisse getroffen, die er erzählen will, ebenso die Art und Weise, wie er sie verknüpfen und präsentieren möchte – die Narration ist also eine spezifische Darstellung, nicht aber die Geschichte selbst. Man kann ein und dieselbe Geschichte auf verschiedene Arten schildern. Dabei geht es um die Dynamik zwischen dem, was erzählt wird, und dem, wie es erzählt wird.

Story bzw. Geschichte ist der Überbegriff. Die enthaltenen Ereignisse lassen sich chronologisch oder erzählerisch anordnen. 

Was bedeutet das?

Zunächst ein paar grundsätzliche Dinge, um zu klären, wie wir hier bei Beemgee die Begriffe verstehen und verwenden: Eine Geschichte bzw. eine Story hat eine Handlung, diese besteht aus erzählten Ereignissen. Handlungsereignisse wiederum werden bestimmt durch Aktionen der Figuren. Dabei spielt immer der Konflikt eine Rolle. Ein und dieselbe Geschichte kann auf unterschiedliche Arten erzählt werden, demnach kann die Handlungsstruktur variieren.

Eine Erzählung kann die Handlungsereignisse der Geschichte in linearer, also in chronologischer Reihenfolge präsentieren oder auch nicht. Die Geschichte bleibt immer dieselbe Geschichte, selbst wenn sie rückwärts erzählt wird. Das ist der einfachste Weg, um sich den Unterschied zwischen Geschichte und Erzählweise vor Augen zu führen: Wenn man die Reihenfolge der Ereignisse umstellt, verändert man auch die Erzählung, da die Art der Wiedergabe eine andere ist, doch man verändert im Kern nicht die Geschichte selbst. Eine neue Gliederung bedeutet, man hat einfach nur eine andere Erzählstruktur derselben Geschichte – diese berührt die Form, aber nicht den Inhalt.

Der Stoff, aus dem Geschichten sind …

Narration wandelt eine Geschichte in Information oder besser in Wissen für den Leser/Zuschauer, ist also dafür verantwortlich, wie der Rezipient diese Inhalte aufnimmt. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Geschichte selbst – ebenso wie Wahrheit – eine Illusion ist, die durch Narration, also die Art der Darbietung hervorgerufen wird. Es geht also um die Kunst des Erzählens, um Storytelling, um Dramaturgie.
Aber nicht nur: Es ist wichtig, zuerst den Erzählstoff sorgfältig zu entwickeln, damit eine Erzählung funktionieren kann. Man kann zwar eine gute Geschichte schlecht erzählen, doch aus keiner schlechten Geschichte eine gute Erzählung machen.

Ein Autor hat die Wahl – um genau zu sein: Er hat viele Möglichkeiten.
Erst einmal wird die Entscheidung getroffen, welche Geschichte man erzählen möchte. Die Wahl der Erzählweise bestimmt die Art, wie die Geschichte geknüpft wird. So hat bspw. das Genre einen Einfluss auf die Erzählstruktur. Die gleichen Ereignisse könnten die Grundlage für eine Komödie oder aber einen Thriller bilden.

Stanley Kubricks Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben und Sidney Lumets Angriffsziel Moskau sind ein Beispiel dafür, wie ähnliche Inhalte in gänzlich verschiedener Manier erzählerisch aufbereitet werden können – die beiden Filme behandeln zwar die gleiche Thematik, nämlich die Bedrohung durch einen Atomkrieg, und sind daher vergleichbar, gehen jedoch in der Ausführung vollkommen unterschiedlich damit um. Die Geschichte von Lolita wäre wahrscheinlich anzüglich, wenn sie von einem weniger großen Schriftsteller als Vladimir Nabokov geschrieben würde.

Die Wahl der Erzählperspektive hat wahrscheinlich den größten Einfluss auf den Leser/Zuschauer. Kaum ein anderer Faktor bestimmt so sehr den Effekt einer Story. Eine Geschichte aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der verschiedenen Figuren zu erzählen, ergibt abweichende, da subjektive Sichtweisen und bedingt somit verschiedene narrative Strukturen.

Dies ist der berühmte Rashomon-Effekt, benannt nach dem Film von Akira Kurosawa aus dem Jahr 1950. Viermal wird das gleiche Ereignis gezeigt, aber so, wie es von den vier Teilnehmern wahrgenommen (oder zumindest erzählt) wird. Die vier Erzählungen haben sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Verständnis des Publikums für die Wahrheit dessen, was tatsächlich passiert ist. Dies liegt an den unterschiedlichen Motivationen hinter jeder Charakter-Aktion. Eine Figur mag etwas tun, weil sie ein bestimmtes Ergebnis erzielen will. Aber eine andere Figur kann derselben Handlung ganz andere Motivationen zuschreiben oder andere Konsequenzen beobachten. Auch wenn die Anordnung der Ereignisse nur sehr geringfügig verändert wird, wird die Kette von Ursache und Wirkung durch die unterschiedliche Sichtweise verändert.

Eine Chronologie ist im Wesentlichen eine Liste von Ereignissen. Sie impliziert Zeitlichkeit. Zwischen den einzelnen Ereignissen könnten Sie die Wörter „und dann“ einfügen. Ziel einer Chronologie ist es, über das Geschehene zu berichten. Als Menschen wird unser Verstand nach Gründen suchen, warum die Ereignisse passiert sind – die Chronologie könnte solche Interpretationen liefern oder auch nicht. Eine Erzählung hingegen impliziert Kausalität. Hier könnten Sie zwischen den Ereignissen das Wort „deshalb….“ einfügen. Eine Erzählung (bzw. Narration oder auch Narrative) ist ein Versuch der Erklärung oder Interpretation. Sie trägt Bedeutung oder eine Botschaft (meist in Form eines Themas), die den Rezipienten oder dem Publikum nahe gebracht wird, weil sie die Geschichte auf einer emotionalen Ebene erleben.

Wie und warum Dinge passieren und wie sich Ereignisse zueinander verhalten – das versucht unser Verstand ständig herauszufinden. Wir suchen nach Kausalität. So ist die Narration nicht nur die Wahl eines Autors, sondern auch eine Technik, mit der unser Gehirn versucht, unsere Wahrnehmungen einer komplexen Welt zu verstehen – sei es eine Erzählwelt oder die reale Welt. Wenn wir unsere Wahrnehmungen fassen und zu einer Erzählung formen, reduzieren wir das Empfinden, in einer chaotischen Welt zu leben, und haben dadurch ein größeres Gefühl der Kontrolle.

Letztlich verhält es sich hier wie bei der Wahrheit: Die eine objektive Wahrheit gibt es nicht, sondern maximal einen Konsens, der in einer Idee begründet ist – wohl eine Illusion, die durch Erzählung geschaffen wurde.

Ein angewandtes Beispiel

Ein und dieselbe Geschichte kann durch verschiedene Textformen dargestellt werden:

  • Geschichte/Story
  • Step Outline
  • Treatment
  • Synopsis
  • Logline

Alle diese Spielarten der Ausführung können einem Werk zugeschrieben werden, behandeln also denselben Erzählstoff, sind aber bedingt durch den Zweck, für den der jeweilige Text erstellt wird.

Die Logline und die Synopsis beschreiben die Geschichte, ohne sie zu erzählen – in einem Satz bzw. in wenigen Absätzen. Sie sind typischerweise Teil eines Exposés.

Das Treatment (der Begriff kommt aus dem Drehbuchbereich) ist eine Kurzdarstellung der Geschichte – eine Zusammenfassung des Plots, inklusive Benennung der wichtigsten (nicht aller) Handlungsereignisse. So eine Kurzversion der Story beschreibt dieselbe Geschichte wie der ausformulierte Roman, hat jedoch eine andere Erzählstruktur, da diese komprimierte Fassung die Handlungsereignisse nicht in demselben bzw. vollem Umfang abbildet.

Synopsis und Treatment (und in extremen Fällen möglicherweise sogar die Logline) weisen aus, wie die Erzählung funktioniert, v. a. wenn sie nicht chronologisch ist, geben ggf. einen Hinweis auf die Erzählweise, doch keine Beschreibung der einzelnen Ereignisse.

Die Step Outline (auch dieser Begriff ist eine Stufe beim Prozess des Drehbuchschreibens) benennt alle Handlungsereignisse einer Geschichte in der narrativen Reihenfolge (Szenenfolge), ist also eine Art verkürzte Meta-Version der Geschichte selbst.

Logline, Synopsis, Treatment und Step Outline sowie das vollständige Werk verweisen auf dieselbe Geschichte, doch nur die Step Outline und das Werk selbst haben eine analoge Erzählstruktur (Narration), da sie dieselben Handlungsereignisse in exakt gleicher Reihenfolge darstellen, ohne etwas auszulassen – denn allein das Weglassen kleinster Informationen kann bereits die Narration (die Erzählung) verändern.


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