Innere Notwendigkeit

Vom Innen und Außen

In den meisten Geschichten ist das, was die Figur wirklich benötigt, inneres Wachstum. Daraus ergibt sich eine innere Notwendigkeit, denn ohne Lernprozess kann keine Entwicklung, keine Veränderung stattfinden. In einigen Fällen kann dies die „Reparatur“ einer Dysfunktion, eines Defizits sein.
Diese innere Notwendigkeit steht in Bezug zum internen Problem eines Charakters – so wie der äußere Bedarf mit dem externen Problem verknüpft ist.

Dem Leser/Zuschauer sollte diese innere Notwendigkeit der Figur daher frühzeitig – lange bevor sie selbst sich diese eingesteht – deutlich werden. In den meisten Geschichten geht es um das Lernen, und Lernen bedeutet das Aufdecken von etwas bisher Unbekanntem. Die eigentliche Notwendigkeit einer Figur besteht also darin, das innere Problem zu enthüllen, sich ihrer Schwachstelle bewusst zu werden.

Eine Figur mag sich ihrer wahren Not nicht bewusst sein, weil sie ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit unterdrückt. Etwas, das sie getan hat (besser als etwas, das ihr passiert ist), verursacht Scham oder Schuldgefühle, und deshalb verbirgt sie es vor sich selbst. Um dies zu überwinden, muss sie eine Art von Heilung erreichen. Der Zauber besteht darin, einen solchen inneren Konflikt durch die Ereignisse der Handlung zu dramatisieren.

Zur Erinnerung: Der übliche Modus des Geschichtenerzählens lässt eine Figur auf ein externes Problem bewusst mit einem Wunsch, der Definition des Ziels sowie des äußeren Bedarfs reagieren.
Unbewusst kann diese Figur einen Charakterzug haben, der ein inneres Problem darstellt.

Wenn eine Figur egoistisch ist, besteht die innere Notwendigkeit darin, Selbstlosigkeit zu lernen. Wenn die Figur zu stolz und überheblich ist, muss sie sich in Demut und Bescheidenheit üben. Wenn der Vater seinen Sohn (emotional) vernachlässigt, sollte er lernen, das Kind in sein eigenes Leben mit einzubeziehen. Der Leser/Zuschauer erkennt diese Notwendigkeit bereits weit vor der Figur selbst, da er deren Defizit als störend bzw. quälend empfindet. Die Figur selbst muss erst einen Erkenntnisprozess durchlaufen, damit eine Veränderung eintreten kann.

Selbst eine Geschichte, in der das äußere Problem hauptsächlich den Plot bestimmt und für ausreichend Unterhaltung sorgt – und damit für den Raison d’Être – kann davon profitieren, wenn sich der Protagonist einem internen Problem stellen muss. Denn dieses stellt ein Dilemma dar, das zu lösen durch die Dringlichkeit vorgegeben wird, die der Leser/Zuschauer direkt fühlt.

Selbsterkenntnis und Erwartungshaltung

Es besteht eine starke Verbindung zwischen dem wahren Bedürfnis einer Figur und der Selbsterkenntnis. Wenn eine Figur eine Charakterschwäche ausgleichen soll, muss sie dieses Defizit erst einmal erkennen. Oft tritt dies am Mittelpunkt der Geschichte ein, wird zunächst verdrängt und dann typischerweise unmittelbar vor dem Ziel behandelt – tatsächlich kann der Akt des Lernens das Ziel überflüssig machen. Die Figur setzt nun alles daran, die verursachten Schäden auszugleichen – bei sich selbst oder bei anderen, durchläuft entweder eine Läuterung oder führt einen Akt der Selbstlosigkeit aus. Die Belohnung liegt in der Erfüllung des Wunsches – oft geht das nicht über das Ziel, sondern durch einen anderen Weg, den die Figur am Anfang der Geschichte nicht vorausgesehen hatte. Natürlich nicht, denn am Anfang der Geschichte hatte die Figur das interne Problem noch nicht erkannt und somit auch nicht die innere Notwendigkeit, die zu einer Veränderung führt. Am Ende der Geschichte hat sich die Figur gewandelt, der Charakter ist gewachsen, das interne Problem überwunden.

So ausgearbeitet, ist eine Geschichte ordentlich, befriedigend – und manchmal sehr konventionell. Wir kennen alle populäre Romane und Hollywood-Filme, die so funktionieren. Das ist absolut ok.
Aber Achtung: Das ist eine typische Falle! Selbsterkenntnis mit sofortigen positiven Ergebnissen kann schnell wie ein Klischee erscheinen. Die Technik führt zu leicht zum Happy End, und man läuft Gefahr, zu moralisieren oder einem Charaktermangel vereinfachende Ursachen (wie ein Backstory-Trauma) zuzuschreiben – insg. also zu simple Lösungen vorzugeben.

Es gibt Alternativen:

Es ist durchaus möglich, eine Geschichte so zu konstruieren, dass die Figur nicht das erlangen kann, was sie wirklich benötigt. In Geschichten, die nicht ganz so ausgehen wie das Modell „glücklich bis ans Ende aller Tage“, gibt es oft eine Szene, die mit der Selbsterkenntnis bzw. dem Krisenmoment der Wahl korrespondiert. Das ist der Moment, wenn der Leser/Zuschauer erkennt, dass die Figur nicht bekommen wird, was sie wirklich braucht. Häufig wird diese Enthüllung gegenüber dem Leser/Zuschauer durch die Erkenntnis einer anderen Figur offenbar, wie bspw. in Der Pate, als Michaels Frau Kay die Tür ins Gesicht geknallt bekommt. In diesem Moment realisiert sie – und ihr Gesicht zeigt es dem Zuschauer ganz deutlich –, dass Michael nicht in der Lage war, aus dem Familienunternehmen zu entkommen, also sein Bedürfnis zu decken. Ganz im Gegenteil.

Von Göttern und anderen Sturheiten

Ein anderer Weg, die Falle mit der Selbsterkenntnis zu umgehen, ist, das interne Problem einer Figur eher auf einer Fehlhandlung beruhen zu lassen statt auf einer Charakterschwäche. Der Unterschied besteht darin, dass dieser Fehler aktiv begangen, das interne Problem somit durch eine Tat der Figur verursacht wurde, während bspw. ein Trauma oft durch etwas hervorgerufen wird, das jemandem widerfährt, ohne eigenes Zutun. Wenn etwas, das die Figur einmal getan hat (d. h. in der Vorgeschichte), zu dem gegenwärtigen misslichen Zustand führte (d. h. dem externen Problem), besteht die wirkliche Notwendigkeit u. a. in der Anerkennung dieser Tat als einen Fehler. Doch zum jetzigen Zeitpunkt kann die Figur nichts mehr tun, um diesen Fehler ungeschehen zu machen, es liegt also bei den Göttern und dem Autor, ob Buße oder Wiedergutmachung zur Erlösung führt. Ein gutes Beispiel ist hier die Geschichte von König Ödipus.

Und wer sagt denn, dass die Figur auch wirklich erlöst werden will? Vielleicht will diese Figur ja auch weiter unbeirrbar ihren Weg fortsetzen – und sich so in unser kollektives Bewusstsein als einen denkwürdigen fiktiven Charakter hineingraben. Nicht jede Figur muss wachsen, um unvergesslich zu bleiben. In solchen Fällen, in denen fiktive Charaktere sich nicht ändern und weiterentwickeln, findet eine Entwicklung i. d. R. in uns, dem Leser/Zuschauer statt. Solche Charaktere werden erst peu à pèu enthüllt, schrittweise, sodass sich unsere Wahrnehmung von ihnen allmählich verändert, auch wenn sie selbst sich nicht wesentlich verändern, und am Ende der Geschichte wissen wir mehr über sie als am Anfang, haben somit etwas über uns selbst gelernt.

Und schließlich gibt es eine Form von Not, die a) einen Anstoß für das Verhalten der Figur und b) einen Grund für die Anteilnahme des Publikums liefert. Das, was einer Figur am Herzen liegt, sorgt dafür, dass wir uns für sie interessieren. Wenn ein Protagonist emotional auf einen Umstand reagiert, sehen wir, dass diese Figur ein Innenleben hat, und können uns daher auf einer emotionalen Ebene mit ihr identifizieren. In Aliens beispielsweise, dem zweiten Film der Reihe, wird Ripley dazu überredet, zu dem Planeten zurückzukehren, auf dem ihre Mannschaft ursprünglich das böse Biest gefunden hat, weil der Planet inzwischen von Terraformern“ kolonisiert wurde und es seit einiger Zeit kein Signal mehr von der Kolonie gibt. Die Handlung ist in vollem Gange, und Ripley und die Rettungsmission haben festgestellt, dass die Kolonie zerstört ist und es dort jetzt sehr viele Außerirdische gibt. Dann findet Ripley eine Überlebende, ein junges Mädchen, das sich Newt nennt. Von diesem Zeitpunkt an geht es für unsere Heldin Ripley um mehr als nur das Überleben. Sie hat nun das emotionale Bedürfnis, dieses Kind zu schützen und zu retten. Das gibt der Erzählkraft der Geschichte einen enormen Auftrieb – jetzt ist es für das Publikum noch wichtiger, dass Ripley es schafft, weil sie auch Newt retten muss. Es wird angedeutet, dass der wahre Grund für Ripleys emotionale Bindung zu Newt in einer Vorgeschichte liegt, die mit dem Verlust ihres eigenen Kindes zu tun hat, und die Andeutung allein ist stärker als eine vollständige Erklärung. Das Publikum spürt es, aber inwieweit sich Ripley dieses Grundes für ihre Gefühle gegenüber Newt bewusst ist, bleibt unausgesprochen.

Das emotionale Bedürfnis einer Hauptfigur etabliert eine tiefere psychologische oder moralische Bedeutung unterhalb der Oberflächenstruktur der Handlung. Dieses eigentliche Bedürfnis eines Charakters, seine innere Notwendigkeit, schafft also die Grundlage für die „Tiefenstruktur“ einer Story und bereitet den Weg für die Veränderung, den emotionalen Kern der Geschichte.

Interne Not

Die innere Not bzw. Notwendigkeit einer Figur besteht darin, ihr internes Problem zu erkennen und zu lösen. 

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