Szenentyp: Dreh- und Angelpunkt, die Schlüsselszene einer Geschichte

pivotal point

Die Halbzeit ist strukturell der wichtigste Punkt in einer Erzählung.

Da Geschichten zur Symmetrie neigen, sollte der Mittelpunkt einer Erzählung den Zenit des Erzählbogens und damit den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte markieren.

Um zum (Mittel-)Punkt zu kommen: Was passiert in der Mitte einer Geschichte?

Hier sind einige typische Ereignisse in der Mitte:

  • Etwas Gesuchtes wird gefunden (Star Wars IV, Indiana Jones – Jäger des verlorenen Schatzes, Lolita)
  • Eine verborgene Wahrheit wird enthüllt (zumindest für das Publikum) – wenn auch noch nicht verstanden (Matrix, Stolz und Vorurteil, Der Grüffelo)
  • Ein dramatisches Ereignis durchkreuzt alle bisherigen Pläne (James Cameron’s Titanic)

Im Mittelpunkt der Erzählung kann die Entdeckung von etwas Fehlendem stehen – in Krimis kann hier ein entscheidendes Puzzleteil enthüllt werden (entweder für das Publikum oder für das Publikum und den Protagonisten).

In jedem Genre oder jeder dramatischen Gattung kann der Mittelpunkt ein Moment der Wahrheit sein. Dabei kann es sich um einen Hinweis für das Publikum oder um eine erste Enthüllung der wahren Sachlage handeln. 

Erkennt oder erfährt eine Figur etwas, das ihr bisher verborgen war, dann ist dies der Punkt, an dem die Figur beginnt, ein neues Bewusstsein zu erlangen. Dies gilt vor allem für das Erkennen des eigenen inneren Problems der Figur. Von hier aus kann die Geschichte vielleicht bis zu einem Moment der Entscheidung führen, der Krise, in der dem Publikum klar wird, ob die Figur aus dieser neuen Erkenntnis gelernt hat oder nicht. Mit anderen Worten: Das wirkliche Bedürfnis beginnt, den ursprünglichen Wunsch der Figur zu überwinden oder zu verdrängen, und zwar aufgrund dessen, was in der Mitte der Handlung geschieht.

Einige bekannte Beispiele für den Mittelpunkt

In dem berühmten Kinderbuch Der Grüffelo erfindet die Maus spontan das titelgebende Wesen, um erst einen Fuchs, dann eine Eule und schließlich eine Schlange zu verschrecken. In der Mitte der Geschichte erfährt die Maus, dass es den Grüffelo tatsächlich gibt. Daraufhin trifft die Maus (dieses Mal in Begleitung des Grüffelos) die Schlange, die Eule und den Fuchs – in umgekehrter Reihenfolge! Perfekte Symmetrie. Die Wahrheit wird in der Mitte enthüllt.

Die Mitte ist sehr wirkungsvoll und kann die Geschichte in eine neue Richtung lenken. Hamlet erkennt in der Mitte der Tragödie, dass Claudius tatsächlich seinen Vater ermordet hat. Er ergreift endlich die Initiative – und tötet Polonius durch einen Vorhang.

Das Ziel kann in der Mitte der Handlung erreicht werden. Indiana Jones findet den verlorenen Schatz in der Mitte der Geschichte; Humbert Humbert bekommt Lolita für sich selbst, als ihre Mutter in der Mitte der Geschichte stirbt; Luke Skywalker rettet Prinzessin Leia in der Mitte der ursprünglichen Star Wars Geschichte. In diesen Beispielen befasst sich die zweite Hälfte der Erzählung mit den Folgen, die sich daraus ergeben, dass der Protagonist sein ursprüngliches Ziel erreicht hat.

Während eine Mittelszene so subtil sein kann, dass man sie übersehen könnte (wie Prinzessin Leia wenn sie Luke Skywalker zum ersten Mal trifft), kann die Szene in einigen Fällen so gestaltet sein, dass sie besonders in Erinnerung bleibt. Das ausgewachsene Alien in Alien zeigt sich erst in der Mitte des Films in seiner ganzen Grausamkeit. In Der Pate ist es Michael, der den konkurrierenden Mafiaboss zusammen mit dem korrupten Polizeichef ermordet. In Der Pate II ist die Mitte des Films deutlich unspektakulärer, aber nicht weniger bedeutsam: Michael erkennt, dass sein Bruder Fredo die Familie verraten hat. Die Konsequenz dieser Erkenntnis wird dem Zuschauer erst am Ende deutlich.

Die zentrale Tatsache der Geschichte der Titanic, das signifikanteste Ereignis dieser Geschichte, ist die Kollision des Schiffes mit einem Eisberg. Als James Cameron seinen Film über die Titanic drehte, platzierte er das wichtigste Ereignis in genau die Mitte der Erzählung.

Die Mitte markiert also den wichtigsten Punkt in der Entwicklung hin zu der Veränderung, die die Geschichte beschreibt. Es ist ein Punkt, nach dem es kein Zurück mehr gibt. Danach kann das Leben für den Protagonisten nie wieder wie früher sein, und am Ende der Geschichte wird eine neue Ordnung geschaffen.

Und: Nach dem Mittelpunkt werden die Kräfte des Antagonismus immer stärker und rücken näher.

Der Mittelpunkt in der Theorie

Angesichts seiner auffälligen Bedeutung wird der Mittelpunkt in der Erzähltheorie erstaunlich wenig thematisiert.

Gustav Freytag nennt den Mittelpunkt den „Höhepunkt“, doch wird dieser Begriff heute meist für die finale Konfrontation zwischen Protagonist und Antagonist verwendet, die typischerweise gegen Ende der Erzählung stattfindet. In Freytags Terminologie ist der Abschnitt der Erzählung nach dem „Höhepunkt“ die „fallende Handlung“, weil er alles, was zum Mittelpunkt hinführt, „steigende Handlung“ nannte.

Freytags Pyramide ist heute berühmter als seine Romane, und sie entspricht in gewisser Weise dem heute modischen Bild des „Handlungsbogens“. Ein Handlungsbogen neigt nach seinem Höhepunkt natürlich abwärts, daher „fallende Handlung“, was jedoch kontra-intuitiv erscheint weil sich der Aufbau der Handlung zur letzten Konfrontation bzw. zum Ende hin viel eher wie eine steigende Spannung anfühlt. Schließlich eskaliert die Handlung in der Mitte eher als dass danach alles langweiliger wird. Freytags unglückliche Terminologie mag ein Grund dafür sein, dass er heute fast nur noch in der Wissenschaft anzutreffen ist.

Was Checkovs Pistole mit dem Mittelpunkt zu tun hat

Autor*innen, die Geschichten verfassen, tun also gut daran, sich zu überlegen, welche wichtige Szene oder Handlung für die Geschichte von zentraler Bedeutung ist oder dem Publikum ein neues Verständnis der Geschichte vermittelt. Wenn Sie eine Handlung planen, bestimmen Sie die eine Szene von größter Bedeutung und platzieren Sie sie so nah wie möglich an der Mitte der Erzählung.

Betrachten Sie dann alle Szenen links und rechts davon und prüfen Sie, wie sie zueinander in Beziehung stehen. Ordnen Sie die Szenen so an, dass die Szenen der zweiten Hälfte den entsprechenden Szenen der ersten Hälfte zugeordnet werden könnten. Dadurch wird eine Symmetrie in der Geschichte erreicht.

Die Technik der Vorahnung oder des Einpflanzens (auch bekannt als „foreshadowing“ oder „set-up“ und „pay-off“) ist eines der wirkungsvollsten dramaturgischen Mittel. Das Publikum reagiert stärker auf dramatische Ereignisse, wenn sie vorher angedeutet wurden. Und die Vorahnung funktioniert besonders gut, wenn die Symmetrie berücksichtigt wird.

Wenn Sie also 100 Szenen haben, achten Sie darauf, dass die Szene 50 (oder so ungefähr) von großer Bedeutung ist. Und wenn in Szene 90 eine Waffe abgefeuert wird, versuchen Sie, diese Waffe bereits in Szene 10 zu platzieren.

Foto von Ashish Rangwala auf Pexels


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