Veränderung
Wenn es eines gibt, das alle Geschichten gemeinsam haben, ist es die Veränderung.
Eine Geschichte beschreibt schon per Definition eine Veränderung.
Tatsächlich tut dies jede einzelne Szene.
Die grundlegendste Veränderung, die Geschichten tendenziell beschreiben, ist die Erkenntnis einer Wahrheit. Was am Anfang der Geschichte nicht bekannt ist, wird am Ende erkannt. Dies ist offensichtlich in Krimis, gilt aber auch für fast alle anderen Geschichten. Die Geschichte selbst kommt also einem Akt des Lernens bzw. einem Erkenntnisprozess gleich. Oft ist diese Lernkurve am Protagonisten zu beobachten, der am Ende weiser ist als am Anfang. Tatsächlich ist es aber der Leser/Zuschauer, der hier einen Lernprozess durchläuft – durch das Erfahren der Geschichte.
Was also verändert sich in einer Geschichte?
Wenigstens eine der Figuren, zumeist der Protagonist. Oft auch andere Charaktere, manchmal die gesamte Welt in der Geschichte. Noch dazu: Es verändert sich wer was versteht – und meist eine Wahrnehmung dessen, was wahr oder wertvoll ist.
Warum?
Damit das Publikum oder der Leser sich auch verändert. Zumindest ist dies die Grundidee. Die Geschichte bietet eine physische, emotionale und intellektuelle Erfahrung: körperlich, wenn das Herz vor Aufregung schneller schlägt oder die Handflächen schwitzen – emotional, wenn man mit den Figuren mitfühlt und mitfiebert, und intellektuell, wenn sie einem zu denken geben.
Wenn eine Geschichte keine dieser Reaktionen hervorruft, hat sie versagt.
Erfahrungen verändern uns.
Durch Erfahrungswerte lernen wir. So also auch durch eine Geschichte: Wenn der Leser/Zuschauer hier eine Entwicklung (mit) durchmacht, hat er bestenfalls am Ende etwas gelernt.
So findet also eine Veränderung nicht nur innerhalb der Geschichte statt, sondern auch außerhalb – in dem Rezipienten. In einigen Geschichten kommt es vor, dass kaum Lernprozess oder Veränderung geschildert wird. So verändert sich bspw. Alice nicht wesentlich durch ihre Erfahrungen im Wunderland, aber der Leser wird auf ein wildes Abenteuer mitgenommen und erfährt dadurch viel Neues und Aufregendes, das außerhalb seines Erfahrungshorizontes liegt.
Der Lerneffekt, der mit Veränderung einhergeht, stellt sich nur rein, wenn die Geschichte funktioniert, d. h. einen Erfahrungswert anzubieten hat. Wenn also der Leser/Zuschauer in die Lage versetzt wird, die Entwicklung nachzuvollziehen, zu verstehen und zu fühlen. Die Geschichte in ihrer Gesamtstruktur dahingehend zu überprüfen, ist im Groben recht simpel: Man stellt einfach die beiden Situationen – „vorher“ und „nachher“ – einander gegenüber. Da Geschichten eine Tendenz zur Symmetrie haben, kann man diese Punkte formal abgleichen: Der Anfang einer Geschichte schildert die Situation vor ihrem Einsetzen, das Ende hat eine korrespondierende Szene, die den Zustand danach darstellt.
Die eintretende Veränderung ist gleichzeitig Ausdruck eines Ausgleichs und schafft eine neue Balance. Auf einer sehr einfachen Ebene lässt sich die Story-Struktur folgendermaßen beschreiben:
- ein externes Problem (eine Veränderung in der gewöhnlichen Welt des Protagonisten) stört das Gleichgewicht der Ausgangssituation
- die Störung wird erforscht, es entsteht ein Konflikt, Hindernisse müssen überwunden werden
- das Problem wird verstanden und bewältigt, wodurch ein neues Gleichgewicht oder eine neue Situation geschaffen wird
1 – Der Protagonist ändert sich
Wir haben eben festgehalten, dass der Protagonist am Ende weiser ist als zu Beginn der Geschichte. Dies hat etwas mit dem Wunsch der Figur zu tun, der nur durch eine Veränderung erreicht werden kann – ob er erfüllt wird oder nicht. Oftmals beinhaltet dies, dass die Figur ihr inneres Problem löst und der Wandel in ihr selbst stattfindet. Sie muss also erst einmal die innere Notwendigkeit empfinden bzw. entwickeln, sich zu ändern, diese akzeptieren und fortan danach streben, diese Veränderung herbeizuführen. Alle Ereignisse in der Handlung, sämtliche Hindernisse sind per se nicht interessant für den Leser/Zuschauer. Entscheidend ist dabei, welchen Einfluss diese Vorfälle und Hürden auf die Figur haben, wie sie damit umgeht, wie sie sich durch diese Vorkommnisse entwickelt.
Eine Geschichte kann natürlich auch lediglich eine Veränderung durch die Lösung des äußeren Problems aufzeigen, die einen Wechsel der äußeren Umstände mit sich bringt. Dagegen ist nichts einzuwenden.
2 – Einige Charaktere ändern sich
In vielen Geschichten werden in einer Nebenhandlung die Figuren behandelt, die um den Protagonisten herum auftauchen. Der Wandel dieser Figuren lenkt den Blick auf verschiedene Aspekte des Themas. Eventuell handelt die Geschichte aber auch von einer Gruppe und es ist nicht einfach (womöglich nicht einmal notwendig), hier einen einzelnen Protagonisten zu identifizieren oder individuell zu betrachten. In einer Romanze oder einem Buddy-Film geht es um (meist) zwei Figuren. Wie auch immer – irgendein Wandel vollzieht sich in allen Hauptfiguren.
Es gibt einen Archetyp, der sich ebenfalls verändert und häufig vernachlässigt wird: Wir nennen diese Rolle die Kontrastfigur. Diese spiegelt den Protagonisten, wie z. B. Han Solo den Luke Skywalker in Star Wars oder die Mutter den Jungen in Boyhood.
3 – Die ganze Welt verändert sich
Möglicherweise ist die ganze Erzählwelt am Ende der Geschichte anders als am Anfang. Die Story-World als Konzept bezieht sich auf das Ausmaß der in der Geschichte gezeichneten Welt, also die Lebenswelt der Figuren. Wenn also das Handlungsfeld der Charaktere eher beschränkt ist, ist auch die Erzählwelt sehr klein und der Horizont abgesteckt.
Wenn die Geschichte ein Epos ist, ist das Setting groß angelegt und bildet die Version einer ganzen Welt ab. So in klassischen Genres wie Götter- und Heldensagen sowie kosmogonischen Erzählungen. In Epen findet ein Wandel der gesamten Erzählwelt statt. Tragödien behandeln immer den Wechsel vom Leben zum Tod, die Lebenswelt der Figuren ändert sich unumkehrbar.
Nur die Komödie hat keine besonderen Ambitionen, eine grundlegende Veränderung der Erzählwelt zu beschreiben, und begnügt sich damit, ihre Bewohner nur ein wenig anzuschubsen. Die typische Struktur einer Komödie – ob wir jetzt von Aristophanes oder modernen TV-Sitcoms reden – hat eine stabile Situation zu Beginn, die durch einen Vorfall oder ein Problem gestört wird. Diese Störung verursacht zunächst ein chaotisches, aber meist nicht lebensbedrohliches Durcheinander, das durch die Wiederherstellung der ursprünglichen, ungestörten Situation gelöst wird. Auch wenn die Hauptfiguren dann womöglich verheiratet sind, also eine Veränderung eingetreten ist, ist die Story-Welt wieder in einen stabilen Zustand gebracht.
So bildet also ausgerechnet die Komödie im Kern eine sehr ernste und grundlegende Wahrheit ab: die zyklische Natur des Universums. Der Frühling kommt immer, egal wie düster der Winter. Der Tag kommt immer, egal wie dunkel die Nacht.
Veränderung muss nicht endgültig sein. Eine Veränderung kann sich zyklisch vollziehen. Das ganze Leben ist ein einziger Wandel.
Hier erfährst du, wie relevant Veränderung für jede einzelne Szene in deiner Handlungstruktur ist.
Veränderung ist ein Grundprinzip im Storytelling. Ohne Veränderung gibt es keine Geschichte. Bestenfalls findet die Veränderung beim Rezipienten, dem Leser oder Zuschauer, statt.
Die Aufgabe für die Verfasser*in einer Geschichte besteht also darin, den Stand der Dinge für die Protagonist*in, die mitwirkenden Figuren, die Welt der Geschichte und das Publikum am Ende der Erzählung genau zu kennen, und den Stand der Dinge am Anfang der Erzählung. Je größer der Kontrast, desto besser. Sobald diese beiden Situationen feststehen, arbeitet die Autor*in die vielen Schritte aus, die nötig sind, um die Hauptfigur, die Figuren, die Welt der Geschichte und das Publikum von einer Lage in die andere zu bringen.
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