Wunsch
Geschichten handeln von Charakteren, die etwas wollen.
In diesem Artikel geht es um aktive vs. passive Figuren, Motivation, den Unterschied zwischen Wunsch und Ziel – außerdem werden hier Fallen und Fallstricke benannt, die man als Autor umgehen sollte.
Wunsch und Ziel sind relevant für die Handlung. Eine weitere Form der Motivation, die der Figur inhärent ist, beschreiben wir an anderer Stelle als Vorstellung.
Aktive Figuren
Figuren müssen aktiv und aus eigenem Antrieb heraus handeln. Der Wunsch muss so dringlich und stark sein, dass sie Aktionen ausführen. Falls kein Wunsch besteht oder dieser zu schwach ist, fehlt der Figur die Motivation und sie erscheint passiv. Eine passive Figur ist allerdings nicht interessant genug, um des Lesers/Zuschauers Aufmerksamkeit dauerhaft zu binden.
Eine evolutionäre Erklärung von Geschichten als Praxis der Problemlösung bringt hier Aufklärung: Wenn Figuren auf Ereignisse mehr reagieren als sie zu verursachen oder aktiv zu gestalten, erscheinen sie schwach und eher wie Opfer der Umstände. Das bedeutet, dass wir nicht viel von ihnen lernen können.
Wir erleben Geschichten physisch und emotional (unser Herz schlägt schneller, unsere Handflächen schwitzen), und da wir aus Erfahrung lernen, bevorzugen wir instinktiv Geschichten, die uns Erfahrungen bescheren, die uns in gewisser Weise zum Vorteil gereichen. Dieser Fall tritt ein, wenn wir Geschichten mit eigenmotivierter Problemlösung erleben.
Motivation
Schauspieler befragen den Regisseur gerne nach der Motivation der jeweiligen Figur, die sie verkörpern sollen. Das sei wichtig, um diese glaubhaft darstellen zu können. Dieses „Klischee“ lässt sich 1:1 auf die Frage nach der Motivation der Charaktere in einer Geschichte übertragen: Diese beflügelt sie zu ihren Taten. Geschichten funktionieren am besten, wenn die Figuren darin eher aktiv statt passiv sind und v. a. einen nachvollziehbaren Grund für ihre Aktivität haben.
Ein externes Problem ist als Grund für den Wunsch einer Figur für den Leser/Zuschauer verständlich. Einfach gesprochen: Die Figur möchte das Problem lösen. Das kann jeder nachvollziehen.
Ein gutes Beispiel ist das Grimmsche Märchen Aschenputtel: Ihr Problem ist die Abhängigkeit von der Stiefmutter und deren garstigen Töchtern.
Der Wunsch ist eine Vision der Figur, wie ihre Situation ohne das Problem wäre oder aussehen würde. Die Figur ersehnt sich also tatsächlich einen bestimmten Zustand – sei es Gesundheit, Macht, Respekt oder eine glückliche Beziehung bis ans Ende aller Tage. Aschenputtel wünscht sich nichts mehr, als frei von Demütigung und den ihr auferlegten niederen Arbeiten zu sein.
Der Wunsch unterscheidet sich von dem Ziel, welches quasi das Portal zum erwünschten Daseinszustand darstellt: In einer Geschichte muss eine (Haupt-)Figur meist ein Ziel erreichen, um den Wunsch zu befriedigen, sprich: den gewünschten Zustand herzustellen – zumindest ist es das, was die Figur annimmt. Im Fall Aschenputtel ist das Ziel die Teilnahme am Ball, um dem Prinzen wiederzubegegnen. In anderen Geschichten ist das Ziel vorgelagert, d. h. entspricht dem vermeintlichen Torweg zum Wunschzustand.
Die Figur wünscht oder verlangt nach einem Zustand, das vermeintlich via dem Ziel zu erreichen ist.
In einer Geschichte verfolgen die Figuren ihre jeweiligen Wünsche. Diese können gegensätzlich sein und daher Interessenskonflikte verursachen. Kontrahierende Wünsche führen zu Aktivität der Figuren und der Leser/Zuschauer wird so in das Geschehen involviert.
Das hört sich leichter an, als es ist. Tatsächlich ist dies bei vielen Geschichten häufig der Knackpunkt.
Neben passiven Charakteren ist nicht ausreichend vorhandene Motivation ein häufiger Fehler beim Geschichtenerzählen. Man kann eine ganze Geschichte mit Figuren schreiben, die reagieren statt zu agieren oder zwar aus eigenem Wunsch heraus handeln, deren Beweggrund dem Leser/Zuschauer aber nicht deutlich wird. Es kann eine Versuchung sein, solche Art von Geschichten zu schreiben, da sie lebensnäher, authentischer erscheinen. Im „realen Leben“ haben Leute nicht unbedingt bestimmte Ziele, die sie verfolgen. Oft sind unsere Wünsche vage und nicht klar definierbar.
Natürlich kann man eine Geschichte über einen Charakter schreiben, der generell unzufrieden ist und – wie so viele – keine klare Position im Leben hat. Doch der Leser/Zuschauer wird womöglich unruhig werden und nach dieser Direktive suchen bzw. den Eindruck erhalten, die Geschichte drehe sich um die Suche der Figur nach einer klaren Perspektive. Als Leser/Zuschauer fragt man sich stets, was das Movens hinter den Aktionen eines Charakters ist. Wenn durch mangelnde Motivation keine emotionale Bindung des Lesers/Zuschauers entsteht bzw. dieser nicht involviert wird, besteht die Gefahr, dass er das Interesse verliert.
Widersprüchliche Wünsche
Ein Mittel, Figuren psychologische Tiefe und emotionale Komplexität zu verleihen, ist, diesen mehrere und v. a. entgegengesetzte Wünsche zuzuteilen. Gollum in Der Herr der Ringe will unbedingt den Ring – einerseits, andererseits will er Frodo helfen und dessen Freund sein. Marty Hart in True Detective will zum einen den Fall lösen, zum anderen ein guter Familienvater und Ehemann sein und zum dritten Affären mit anderen Frauen haben – drei Wünsche für eine Person.
Ein Wunsch ist nicht nur eine Sehnsucht, er ist ein Ausdruck von Werten. Was sich eine Figur wünscht, zeigt dem Publikum etwas über diese Figur. In diesem Sinne bilden zwei widersprüchliche Wünsche die Grundlage für eine starke Szene der Wahl. Bei der Krise könnte die Figur in ein Dilemma geraten und muss sich zwischen zwei Kursen entscheiden. Beide könnten zu einem Zustand führen, den sich die Figur wünscht, aber diese Wünsche schließen sich gegenseitig aus. Für das Publikum mag es offensichtlich sein, welche Wahl die richtige ist – sie werden wollen, dass die Figur in eine Richtung geht. Aber für die Figur mag es einen starken Sog in die andere Richtung geben. Die endgültige Wahl offenbart die moralische Grundlage der Figur – und drückt oft das Thema der Geschichte aus.
Ist es wirklich notwendig, dass jede Figur einen klar definierten Wunsch hat?
Natürlich gibt es in bestimmten Fällen Ausnahmen.
Der Autor kann bewusst das Warum der Taten einer Figur verschleiern, um eine gewisse mystische Aura zu erzeugen. Nichtwissen hält den Leser/Zuschauer so im Ungewissen und erzeugt Neugier – ebenso wie eine Erwartungshaltung. Dieses Mysterium wird i. d. R. zu einem bestimmten Punkt in der Erzählung aufgeklärt. Selbst wenn der Wunsch nicht frühzeitig herausgestellt wurde, war er doch in der Figur angelegt und vom Autor intendiert.
So ein Mysterium mit einzubinden, ist nicht per se problematisch, allerdings sollte der Autor wohl bedenken, ob er dadurch tatsächlich Neugierde oder eher Desinteresse beim Leser/Zuschauer weckt.
In wenigen Fällen bleibt die Motivation einer Figur verborgen – ein typisches Beispiel dafür ist ein Bösewicht, bei dem wir über die Hintergründe seiner Negativeinstellung nichts erfahren.
Iago aus Shakespeares Othello ist einfach durch und durch schlecht und wir erfahren nie, was ihn dazu gemacht hat. Shakespeare – absichtlich, so vermutet man – gibt keinen Hinweis darauf, warum Iago danach trachtet, Othello zu ruinieren. Shakespeare hätte ihm ebenso gut eine klar verständliche Motivation hinterlegen können, wie Rache für ein begangenes Unrecht oder Neid auf Othellos Erfolg, der Wunsch, Othellos Position einzunehmen, ein Verlangen nach Desdemona, doch er hat darauf verzichtet – und Iago ist einer der großartigsten Schurken überhaupt.
Eine weitere mögliche Ausnahme sind (fiktive) Lebensberichte in der ersten Person, wie Charles Dickens‘ David Copperfield, Der Fänger im Roggen von J. D. Salinger, Die Abenteuer des Augie March von Saul Bellow, oder William Boyds Any Human Heart (Eines Menschen Herz). Erzählt der Erzähler seine eigene Geschichte, entsteht ein Unterschied zwischen der Zeit der erzählten Geschichte und der impliziten zukünftigen Zeit des Erzählens. Der Erzähler erzählt eine Vergangenheit aus der Perspektive eines älteren Selbst. Dieses ältere Selbst hat einen Seinszustand erreicht, der sich von dem der Figur unterscheidet, von der erzählt wird – der Erzähler ist weiser als sein jüngeres Selbst. Dadurch entsteht ein Effekt für den Leser: Der Leser möchte wissen, wie die Figur diesen älteren, weiseren Zustand erreicht. Mit der Technik ist es möglich, Charakterwünsche weniger offensichtlich oder direkt zu gestalten und dennoch einen emotionalen Antrieb zur Geschichte zu schaffen.
Doch vielleicht ist das interessanteste Moment an dem Wunsch einer Figur tatsächlich der Konflikt zwischen dem, was sie sich ersehnt, und dem, was sie wirklich braucht.